R. A. Ruch: Kartographie und Konflikt im Spätmittelalter

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Titel
Kartographie und Konflikt im Spätmittelalter. Manuskriptkarten aus dem oberrheinischen und schweizerischen Raum


Autor(en)
Ruch, Ralph A.
Reihe
Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
200 S.
von
Maike Schmidt

Karten aus ‹vorkartographischen› Zeiten sprechen nicht für sich – weder die symbolträchtigen mappae mundi noch die behelfsmässigen Kartenskizzen, die etwa bei Herrschaftsteilungen angefertigt wurden. Sie bedürfen einer Rückbindung an ihre Produktions- und Gebrauchsbedingungen, und zwar anhand der Schriftquellen, die bestenfalls in ihrem Umfeld entstanden sind. Um solche ontextualisierungsverfahren hat sich die Historische Geographie1 schon seit längerem bemüht und damit auch die Frühneuzeitforschung beeinflusst, die sich mit dem wiederkehrenden Interesse an Territorialgrenzen verstärkt Karten und ihrer Funktion im Herrschaftshandeln zuwendet.2 Ralph Ruch setzt mit seiner Untersuchung zum 15. Jahrhundert (1429/30−1497) an diesem Problemkomplex an und behandelt damit eine verhältnismässig frühe Phase des Einsatzes von Karten in konfliktträchtigen Kontexten. Im Fokus stehen vier zunächst völlig unterschiedliche Bildtypen aus dem schweizerischen und oberrheinischen Raum.
 
Im Titel der Dissertation prangt zwar der Begriff «Kartographie», allerdings wird allein schon aus dem zeitlichen Zuschnitt deutlich, dass kaum klassische Altkarten à la Mercator oder Cassini besprochen werden. Anhand einer Kartenskizze der Stadt Genf, eines parzellenartigen Lageplans klösterlicher Besitzungen am Oberrhein, zweier Stadtillustrationen einer Zürcher Chronik und der ersten Kartierung der Eidgenossenschaft von Konrad Türst fächert Ruch ein grosses Spektrum von Raumdarstellungen im weitesten Sinne des Genres auf. Diese weisen nicht nur räumliche Nähe zueinander auf, sondern stammen auch alle aus einer Zeit herrschaftspolitischer Umbrüche. Der Studie geht eine glückliche Überlieferungslage voraus, die weniger nur dem Zufall denn der hervorragenden Archivkenntnis des Autors und der akribischen Auswertung grosser Aktenkonvolute zu verdanken ist. Mit Ausnahme von Türsts Karte sind die von Ruch untersuchten Abbildungen der überregionalen Forschung kaum bekannt.
 
Ruch verzichtet auf einen Methodenteil, befasst sich lediglich in der Einleitung auf wenigen Seiten mit vormoderner Medialität (S. 13−16). Die Gliederung erfolgt streng nach Massgabe des Mediums. Pro Kapitel wird ein Quellenbeispiel besprochen, das jeweils für eine zentrale Form «kartographischer Sinnstiftung» (S. 16) im Herrschaftshandeln stehen soll. Die vier Quellenanalysen tragen einer Vielzahl von kodikologischen, materialkundlichen, herrschafts- und verwaltungsgeschichtlichen Aspekten Rechnung. Besonders berücksichtigt wird, sofern es die Überlieferungslage zulässt, die Sozialgeschichte der Kartenzeichner und Illustratoren, die, ausgenommen der Mediziner und Astronom Türst, alle Männer der fürstlichen beziehungsweise städtischen Administration waren.
 
Den zentralen Bezugspunkt bildet die im Titel stehende Kategorie «Konflikt » (S. 17). Ein Konfliktbegriff wird nicht erarbeitet. Dieser Zugang hat insofern seine Berechtigung, als im Kern alle Bilder aus ähnlichen Streitfällen hervorgehen. Der Stadtplan von Genf sowie der Lageplan von Besitztümern des Klosters Honau (bei Rheingau) entspringen beide Herrschaftsdisputen, die schon jahrhundertelang zwischen denselben Parteien geführt worden waren und nunmehr in finalen Verhandlungen (Stadtteilung in Genf, Güterverzeichnis in Honau) beigelegt werden sollten. Die Pläne entstanden aus pragmatischen Erwägungen heraus, dienten als Übersichtskarten für die Erfassung von Besitz, etwa bei Kundschaft oder Zeugenbefragung (S. 50). Beide Skizzen gingen de facto bis vor Gericht, wo sie als Anschauungsmaterial verwendet wurden (S. 51, 67). Ob sie dort wirklich einen Vorsprung bei der Beweisfindung erbrachten, kann letzten Endes deshalb nicht sicher geklärt werden, weil in solchen Prozessen selten finale Einigung erzielt wurde. Auch bei den beiden übrigen Quellen geht es um räumliche Selbstvergewisserung, allerdings auf der Ebene der ostentativen Raumkonstruktion. In den zwei Buchillustrationen einer Zürcher Chronik, die im Grunde eine Mischung aus Belagerungsszene und Stadtansicht darstellen, sieht Ruch «immanente politische Propaganda» (S. 101) gegen die im Alten Zürichkrieg erfolgten Berner Übergriffe. Hier wäre die Frage zu stellen, wo Buchillustration aufhört und Karte anfängt, wenngleich den Miniaturen ein gewisser topographischer Charakter nicht abzusprechen ist. Vollkommen überzeugend ist hingegen die Interpretation von Türsts Karte, die für die älteste Landesbeschreibung der zehnörtigen Eidgenossenschaft angefertigt wurde, um das neue Bündnissystem visuell zu emanzipieren, als Flächenstaat in das europäische Machtgefüge einzubetten (S. 146) und dem Helvetier-Mythos Vorschub zu leisten (S. 165).
 
Ruch legt eine Funktionsanalyse vormoderner Raumabbildungen mit hoher empirischer Substanz vor. Mit einer vielleicht einzigartigen Quellenkonstellation und der Berücksichtigung administrativer Praktiken überwindet er Horizonte einer technisch ausgerichteten Kartographiegeschichte. Es stellt sich notwendigerweise die unbeantwortet bleibende Frage nach der analytischen Abgrenzung von Karten und Raumabbildungen, die beide grundsätzlich an der Schnittstelle zwischen Herrschafts-, Verwaltungs-, Wissens- und Raumgeschichte anzusiedeln sind. Eine Phänomenologie der Karte und ihres Legitimationsdiskurses (angeschnitten auf S. 61−63) wäre daher unbedingt sinnvoll gewesen. Die Arbeit unterstreicht das Potenzial von Karten für die Untersuchung von Herrschaftsbildungsprozessen und Grenzkonzepten in Übergangsphasen. Gewissheit über Kontinuitäten und Brüche kann der mikrohistorische Vergleich letztlich nur verbunden mit streng raumübergreifenden Strukturgeneralisierungen bringen. In dieser Hinsicht hat die Untersuchung vormoderner Erfassungspraktiken kleiner, stark fragmentierter Räume gerade erst begonnen.  
 
1 Vgl. Reuben Rose-Redwood (Hg.), Deconstructing the Map: 25 Years On, Toronto 2015 (Cartographia Bd. 50).
2 Vgl. exemplarisch Andreas Rutz, Territorialpolitik in Karten. Der Streit um die Landeshoheit zwischen Brandenburg-Ansbach und Nürnberg im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Bayrische Landesgeschichte 77 (2014), S. 935–961.
 
Zitierweise:
Maike Schmidt: Rezension zu: Ralph A. Ruch, Kartographie und Konflikt im Spätmittelalter. Manuskriptkarten aus dem oberrheinischen und schweizerischen Raum, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 510-512.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 510-512.

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